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Deeskalationsstrategien im multikulturellen Kontext: Was wir von Pinto und anderen Konfliktforschern lernen können Ein Beitrag für Fachkräfte im Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsbereich

28. Juli 2025

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Andreas Sandvoß

kontakt@andreas-sandvoss.de

Andreas Sandvoß - Train the Instructor - Fortbildung für Ausbilder*innen

Einleitung: Warum kulturelle Brillen entscheidend sind

Deeskalation funktioniert nicht nach Schema F. Was in einer deutschen Einrichtung als klare Grenze verstanden wird, kann in einem anderen Kulturkreis als Respektlosigkeit, Schwäche oder Distanz erlebt werden. In multikulturellen Kontexten braucht es deshalb nicht nur Fingerspitzengefühl – sondern ein fundiertes interkulturelles Verstehen.

Der niederländische Kulturforscher David Pinto brachte es auf den Punkt:

„Die meisten interkulturellen Konflikte entstehen nicht durch bösen Willen – sondern durch gute Absichten, die im falschen kulturellen Rahmen wirken.“
(Pinto, 2000)


1. Das Drei-Stufen-Modell nach Pinto

Pinto entwickelte ein Modell, das uns hilft, kulturelle Missverständnisse zu vermeiden und Deeskalation interkulturell wirksam zu gestalten:

  1. Selbstkenntnis: Was ist mein eigenes Wertesystem? Wo liegen meine Grenzen?

  2. Fremdkenntnis: Wie „tickt“ mein Gegenüber? Welche kulturellen Normen sind für ihn/ihr bedeutsam?

  3. Verständigungsrahmen: Wie können wir gemeinsam einen Rahmen finden, in dem beide Systeme respektiert werden?

Dieses Modell hilft, voreilige Eskalationen durch Missverständnisse zu vermeiden – insbesondere bei Themen wie Augenkontakt, Nähe-Distanz, Lautstärke, direkte Ansprache oder Körpersprache.


2. Besondere Deeskalationsherausforderungen in ausgewählten Kulturkreisen

Naher Osten

In vielen Ländern des Nahen Ostens wie Syrien, Irak oder Jordanien herrscht ein starkes Ehr- und Familienbewusstsein. Beleidigungen, die in Europa als banal gelten, können dort massiven Gesichtsverlust bedeuten.

🔹 Achtung bei direkter Konfrontation! Kritik sollte indirekt, möglichst im Vier-Augen-Gespräch und mit hoher Wertschätzung formuliert werden.
🔹 Emotionen sind erlaubt: Lautstärke oder energische Gesten sind nicht automatisch aggressiv – sondern oft kulturell verankerte Ausdrucksformen.

„Das arabische Gespräch ist performativ. Was wie Wut klingt, ist oft Teil der sozialen Rhetorik.“
(Ruth Wodak, Sprach- und Konfliktforscherin)

Türkei

Hier spielen Ehre, Respekt vor Autoritäten und Hierarchien eine große Rolle. Gleichzeitig ist Gastfreundschaft ein hoher Wert. Zu große Distanz oder kühle Sachlichkeit wirken schnell ablehnend.

🔹 Beziehungsorientierte Kommunikation ist Trumpf: Erst Beziehung, dann Inhalt.
🔹 Konflikte werden eher indirekt gelöst.
🔹 Vermeide öffentliche Kritik: Sie wird schnell als Gesichtsverlust empfunden.

Afrika (Subsahara-Raum)

Afrikanische Kulturen sind extrem vielfältig – aber einige gemeinsame Werte lassen sich herausarbeiten:
🔹 Kollektivismus: Das Individuum steht hinter der Gemeinschaft zurück.
🔹 Respekt vor dem Alter: Jüngere werden nicht mit gleichem Maßstab gemessen.
🔹 Harmoniebedürfnis: Offene Konfrontation ist eher unüblich. Unmut wird häufig indirekt gezeigt.

„In vielen afrikanischen Gesellschaften bedeutet Deeskalation, dem Gegenüber Raum zu geben, ohne ihn bloßzustellen.“
(Francis Deng, UN-Sonderbeauftragter für afrikanische Konflikte)

Bulgarien und Rumänien

Diese Länder sind postkommunistisch geprägt – mit tief verwurzelten Normen von Hierarchie, Autorität und teilweise Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen.
🔹 Respekt und Autorität zeigen – aber freundlich.
🔹 Kritik sollte sachlich, nicht emotional vorgetragen werden.
🔹 „Nein“ bedeutet oft nicht „nie“, sondern „jetzt gerade nicht“. Beziehungsebene beachten.


3. Praktische Deeskalationshinweise im multikulturellen Kontext

Verhalten/Element Deeskalationstipp
Körpersprache In arabischen und afrikanischen Kontexten kann Blickkontakt dominant wirken. Achte auf entspannte Mimik und nicht-konfrontatives Auftreten.
Distanzzonen In der Türkei oder im arabischen Raum ist Körpernähe normal. Rückzug kann als Ablehnung gedeutet werden – gehe aktiv auf die Person zu, aber mit Respekt.
Sprache und Tonfall Lautes Sprechen kann Teil der Kultur sein. Ruhe bewahren, nicht als Angriff interpretieren.
Beziehung vor Regel In vielen Kulturen ist der persönliche Bezug wichtiger als Regelwerke. Erst Verständnis zeigen, dann Grenzen setzen.
Vermeidung von Gesichtsverlust Kritik immer im Vier-Augen-Gespräch, niemals öffentlich. Wertschätzung betonen.

4. Der Unterschied zwischen Regel und Würde

Wie der Konfliktforscher Friedrich Glasl betont:

„Konflikte entstehen dort, wo Menschen nicht gehört, nicht gesehen oder nicht respektiert werden.“

In multikulturellen Kontexten ist die gefühlte Würde oft wichtiger als die objektive Regel. Das bedeutet: Manchmal deeskaliert man nicht, indem man Recht hat – sondern indem man den richtigen Ton trifft.


5. Fazit: Haltung schlägt Methode

Deeskalation in multikulturellen Räumen braucht mehr als Checklisten. Sie braucht:

  • Interesse statt Bewertung

  • Empathie statt Rechthaberei

  • Selbstreflexion statt Kontrolle

Oder wie Pinto es sagt:

„Interkulturelle Kompetenz beginnt mit der Demut, nicht alles zu wissen.“


Leseempfehlungen & Quellen

  • Pinto, David (2000): Interkulturelle Sensibilisierung und Kommunikation

  • Deng, Francis (1995): War of Visions: Conflicting Identities in the Sudan

  • Wodak, Ruth (2009): The Discourse of Politics in Action

  • Glasl, Friedrich (2013): Konfliktmanagement

  • Hofstede, Geert (2010): Cultures and Organizations – Software of the Mind

 

Wie wichtig interkulturelle Kompetenz in sogenannten Anti-Aggressions-Trainings, Anti-Gewalt-Trainings oder in der Ausbildung zum Systemischen Anti-Gewalt-Trainer SAGT(R) ist, will ich hier nicht nochmals besonders hervorheben. Wir müssen halt gut aufpassen, dass wir Verhaltensweisen, Körperspracheanteile oder uns fremde Aspekte nicht als feindlich oder provokativ annehmen und somit stigmatisieren. Stay open minded!

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